Hass…: eine Kritik von Niklas Tröschel

„Wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung“ – eine Filmkritik über den Spielfilm „Hass“ (1995)

Am 6. April 1993 wird der 17-jährige Makomé M’Bowole in Paris festgenommen. Er soll mit zwei Freunden Zigaretten in einem Tabakladen geklaut haben. Da er noch minderjährig ist und seine Eltern nicht zu erreichen sind, veranlasst die Staatsanwaltschaft seine Freilassung. Der Kriminalbeamte Pascal Compain ignoriert jedoch diese Anweisung und führt das Verhör fort. Kurz darauf stirbt Makomé M’Bowole, erschossen mit einer einzigen Kugel aus nächster Nähe. Während des Prozesses teilt Compain in einer Stellungnahme mit, er wollte den Jugendlichen mit seiner Waffe „einschüchtern“.

Kurz darauf revoltiert die Jugend in der Pariser Brennpunkten. Der Film „Hass“ (franz. Originaltitel: „La haine“) steigt mit Originalszenen der Krawalle in den sogenannten „Banlieues“ ein. Dort ist es allerdings „Abdel“, der durch einen Polizisten lebensgefährlich verletzt wurde und im Koma liegt. Regisseur Mathieu Kassovitz erzählt die Geschichte der darauf folgenden 24 Stunden im Leben von Vince, Saïd und Hubert, drei Jungendlichen aus der Pariser Vorstadt. Zu dritt streifen sie durch ihr von den Randalen in Mitleidenschaft gezogenes Viertel. Vince war selbst Teil der Auseinandersetzungen und ist getrieben vom Hass gegen die Polizei und Bessergestellte. Saïd flüchtet sich aus Angst vor der eigenen Zukunft in Humor, während Hubert nach dem Verlust seines Boxstudios nur noch einen Wunsch hat: Raus aus dieser Gegend.

Auf den Straßen ist die Stimmung gereizt. Die Bewohner sind wütend auf die Randalierer, bei der Jugend staut sich die Aggression über die miserablen Zustände und die Polizei wird angesichts des drohenden Kontrollverlustes immer nervöser. Dann kursiert das Gerücht, dass ein Beamter bei den Auseinandersetzungen seine Dienstwaffe verloren hat. Für die einen die Möglichkeit, sich für den in Lebensgefahr schwebenden Abdel zu rächen, für die anderen ein Risiko, dass noch mehr Hass und Gewalt ihr Leben in die Zange nimmt.

In schwarz-weiß Bildern fängt Regisseur Kassovitz den grauen Alltag im Vorstadt-Leben aus der Sicht von Betroffenen ein. Dabei prangert er soziale Missstände an, ohne die Welt in gut und böse aufzuteilen. Vom verständnisvollen Viertel-Kenner bis zum rassistischen Sadisten ist die Pariser Polizei vielschichtig dargestellt. Genauso wie die Jugend, zerrissen zwischen der Wut über die eigene Perspektivlosigkeit und dem Wunsch, ein normales Leben führen zu können. Der Film lässt sich seine Zeit für Einstellungen und verzichtet auf große Effekte und Ästhetik. Sekundenlange Szenen ohne Schnitt, Schwenk oder Zoom lassen den Zuschauer zum Beobachter werden. Der muss die graue Alltags-Tristesse mit den Protagonisten ertragen, bei langatmigen Erzählungen über Fernsehsendungen und dem Nichtstun an der Nilpferd-rutsche vom Kinderspielplatz. Wenig später erträgt er aber genauso tatenlos die immer weiter eskalierende Gewalt.

Nur in wenigen Momenten rutscht der Film inhaltlich aus der Ego-Perspektive. Zu grob eingedroschen sollen die „Banlieues“ auch kulturell dem Publikum näher gebracht werden. Vom Breakdancer bis zum DJ aus dem Hochhauszimmer – ist das zu stark gewollte Werbung für die Subkultur der 1990er Jahre.

„Hass“ ist über zwanzig Jahre alt und zeigt Probleme, mit denen westliche Gesellschaften bis heute zu kämpfen haben. Weiterhin stecken Menschen in sozialen Brennpunkten fest, ohne Aussicht auf eine bessere Zukunft. So werden sie leichte Opfer für extremistische Menschenfänger und treiben sie zu Terror und Gewalt. Der Film verdeutlicht heutzutage umso mehr, welche immense Bedeutung das soziale Klima für unser Zusammenleben hat und wohin immer stärker werdender Hass und Perspektivlosigkeit führt.

Quellen:
Amnesty International News, Mai 1996

Hüter einer gnadenlosen Gesellschaft“, Zeit, 16. April 1993

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