Hass…: eine Kritik von Ann Catherine Schlüter

„Dies ist die Geschichte von einem Mann, der aus dem 50. Stock von ’nem Hochhaus fällt. Während er fällt, wiederholt er, um sich zu beruhigen, immer wieder: ‚Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut…‘. Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung!“

– eine Parabel zum Filmgeschehen und zur gesellschaftlichen Entwicklung Frankreichs in den 90er-Jahren, aber eins nach dem anderen:

Inhalt

Der muslimisch geprägte Said (Said Taghmaoui), der jüdisch geprägte Vinz (Vincent Cassel) und der christlich geprägte Hubert (Hubert Koundé) wohnen in einem der unzähligen Sozialwohnklötzen in dem nördlich von Paris gelegenen Vorort Chanteloup-les-Vignes. Ihr Alltag ist geprägt von Langeweile und nicht endender Zeit, die immer wieder mit Gewalttaten gegenüber der Polizei gefüllt wird. Gerade als ihr Freund Abdel aufgrund eines polizeilichen Übergriffs ins Koma fällt, stachelt sich die Wut und Aggression im Viertel hoch. Gesucht wird Provokation und Rache gegenüber der Justiz. In „Hass“ geht es um Freundschaft und Zusammenhalt, genauso wie um Unzufriedenheit und dem jugendlichen Selbstfindungsprozess.

Kritik

HASS kann sich in vielen Facetten zeigen: das Wort, welches dem Gegenüber an den Kopf geworfen wird und Angst auslöst oder kränkt. Die Tat als Steigerung des Wortes, jedoch auch unabhängig davon zu betrachten, kann sich an eine konkrete Person richten oder exemplarisch für eine Gesellschaftsgruppe gelten. Bei der Tat kann eine Waffe behilflich sein. Thematisch passend lautet die Widmung des Filmes „Ihr habt Waffen, wir haben nur Steine“, die den Personen zugute fällt, die Opfer von Gewalttaten wurden.

Erst vor wenigen Tagen beschloss der französische Präsident Emmanuel Macron die Gesetze gegen häusliche Gewalt zu verschärfen. Präventionsmaßnahmen nennt man das, doch werden dadurch all die Frauen wieder lebendig, die aufgrund ihrer Misshandlungen verstorben sind? Inwiefern sind Regelverstöße messbar, wenn die Gewalttaten hinter verschlossenen Türen stattfinden? Warum erst interagieren, wenn es schon zu spät ist? Wenn die Gründe unbekannt bleiben und die Spirale der Gewalt schon in Umlauf gebracht wurde?

Kassovitz Film basiert auf wahren Gegebenheiten, welches die Ernsthaftigkeit der Gewaltthematik in den französischen Vororten vor Augen führt. In seiner bewusst gewählten schwarz-weiß-Ästhetik repräsentiert er, die häufig willkürlich gewählten Schuldzuweisungen. In „Hass“ geht es in erster Linie um eine Kritik an die Sozialpolitik Frankreichs. Sozialbauten, die immer höher gebaut werden, der Mangel an Arbeitsperspektive, welches die Jugend dazu verleitet erst gar nicht mehr die Schule aufzusuchen und sich stattdessen das Geld mit Drogen- und Schwarzmarkthandel zu verdienen. Die angestaute Frustration zeigt sich schließlich durch ansteigende Gewaltausbrüche gegenüber der staatlichen Justiz, die zwar durchgreifen soll, aber statt Gerechtigkeit und Perspektiven zu bieten, in die Machtkämpfe einsteigt. Als die drei Hauptdarsteller in den Besitz einer Waffe kommen, scheint die angespannte Situation auszuufern.

Umso interessanter ist hier die mehrfach angewandte Montagetechnik, in der ein Schuss, sei es imaginär oder real in die neue Szene einführt und den Zuschauer durch die direkte Visierung mitnimmt. Zu Recht wurden Mathieu Kassovitz und Scott Stevenson dafür mit einem César für den besten Schnitt preisgekrönt.

Besonders vielschichtig ist die Rolle des Hubert angelegt, der im Film später als die beiden anderen Hauptprotagonisten eingeführt wird. Er scheint etwas älter als die beiden anderen und distanzierter gegenüber der Waffeneuphorie zu sein. Geraten die Freunde wieder in eine polizeiliche Auseinandersetzung, ist er es, der noch am ehesten vernunftsorientiert handelt und die Konflikte schlichtet. Als einziger hat er sich mit seiner Boxhalle bereits eine Existenz aufgebaut, die allerdings durch die Unruhen zerstört wurde und mit ihr seine Zukunft. Anstatt sich der Gewalttätigkeit hinzugeben, strebt er ein neues Leben an, in der man sich nicht durch Waffen Respekt verschafft.

Die regelmäßig eingeblendete Zeit verleiht dem Film eine 24h Struktur, die als exemplarisch für die Trostlosigkeit des Alltags, dennoch nicht als verallgemeinert zu sehen ist. Zwar wurde die Konfliktsituation zwischen Vorortsbewohnern und Polizei durch die Unruhen 2005 erneut seit der Veröffentlichung des Films verschärft, dennoch hat sich die soziale Situation seit 12 Jahren innerhalb der Pariser Vororten verbessert. So gab beispielsweise der Bürgermeister des Vorortes Clichy-sous-Bois Olivier Klein an, dass es seither urbane Umbaumaßnahmen in Millionenhöhe gab, um sowohl die Wohnlage (ein Rückgang der Sozialwohnungen von 20%), als auch die Arbeitsperspektive (ca. 15-20% der Arbeitsstellen werden an Bewohner vergeben) zu verbessern.

Natürlich kann dies keine kulturellen Konflikte verhindern, die bei einer multikulturellen Bevölkerung entstehen können, aber es bietet einen Ansatzpunkt, an dem gearbeitet werden kann, um auch gegen Diskriminierung und Rassismus anzukämpfen.

Der auch in der Kategorie bester Film mit einem César prämierte Film sensibilisiert gekonnt und anschaulich gesellschaftliche Missstände in Großstädten und deren potentiellen Auswirkungen auf das Verhalten in Vorstädten groß gewordener Jugendlicher.

verfasst im Wintersemester 2017/2018

 

 

Quellen:

http://www.leparisien.fr/chanteloup-les-vignes-78570/en-vingt-ans-la-cite-de-la-haine-s-est-metamorphosee-31-05-2015-4819499.php 

http://koeln-nachrichten.de/kultur/kinofilm/hass-von-mathieu-kassovitz-nochmal-gesehen-nach-15-jahren/

http://www.film-kultur.de/filme/filmhefte/hass.pdf