Hass…: eine Rezension von Rebecca Preuß

Woher kommt all der Hass?

Plötzlich auftauchender, abgrundtiefer und lang anhaltender Hass.

Kennst du das Gefühl?

Wenn ja, wie fühlt es sich an?

Galt dieser Hass jemanden aus deinem Umfeld?

Entstand er aus Überzeugung?

Drückte er sich durch Abneigung, Beschimpfungen oder gar Gewalt aus?

Wann verschwand dieser Zustand?

 

Hass entsteht nicht grundlos. Er entwickelt sich im Prozess, ist facettenreich und setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen. In einer Gesellschaft ernährt sich Hass vorwiegend von Angst. Angst vor dem Fall. Doch, was ist, wenn du schon längst fällst? Was hast du dann noch zu verlieren?

 

„Dies ist die Geschichte einer Gesellschaft, die fällt. Während sie fällt, sagt sie, um sich zu beruhigen, immer wieder: Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut. Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung!“

 

Die Welt der drei Jugendlichen Vinz (Vincent Cassel), Hubert (Hubert Koundé) und Saïd (Saïd Taghmaoui) befindet sich im Fall. In ihrer Gemeinde Chanteloup-les-Vignes, einer Trabantenstadt rings um Paris (Banlieue) gehören Arbeitslosigkeit, städtische Verwahrlosung und Gewalt zur Tagesordnung. Der kollektive Hass der jugendlichen Chantelouvais entlädt sich in der vergangenen Nacht in einer Straßenschlacht gegen die Polizei. Bei der vorherigen Schlacht wurde ihr 16-jähriger Freund Abdel durch die Polizei lebensgefährlich verletzt und liegt seitdem im Koma. Darüber hinaus geschieht in dieser Nacht ein entscheidendes Ereignis. Einer der Polizisten verliert in den Krawallen seine Dienstwaffe. Die Stimmung beider Seiten ist mehr als angespannt. Es kommt zu weiteren Auseinandersetzungen. Die nächsten 24 Stunden sind maßgeblich. Wird Abdel überleben? Wie wird die Polizei mit der vergangenen Nacht umgehen? Wer hat die Waffe? Wird sie dem Finder einen Vorteil verschaffen?

Der Film wurde durch eine wahre Begebenheit inspiriert. Diese wird bereits in der Titelsequenz deutlich, in der Aufnahmen der Aufstände in den Banlieue 1993 gezeigt werden, die nach der Ermordung Makome M’Bowole mit entstanden. Während eines Verhörs setzte ein Polizist seine Pistole auf die Schläfe des siebzehnjährigen Zairer und drückte, gewollt oder nicht, ab. Der Tod des Jungen löste heftige Unruhen in den Pariser Vororten aus, die die Polizisten schlussendlich gewaltsam niederschlugen. (Weitere Informationen findet man unter: http://www.zeit.de/1993/16/hueter-einer-gnadenlosen-ordnung.)

Die Einsetzung der dokumentarischen Unruhen direkt am Anfang des Filmes bilden den Schauplatz der Handlung und lassen die darauffolgenden Geschehnisse einordnen. Im Gegensatz zu einer Dokumentation bleibt der Film allerdings nicht neutral. Direkt zu Anfang schildert ein Mann, augenscheinlich im Alleingang, sein Unbehagen vor einer Horde von schwer bewaffneten Polizisten.

„Ihr seid doch alle nur Mörder! Ihr könnt schießen, für euch ist das leicht! Ihr habt Waffen, wir haben nur Steine!“

Diese Position wird verstärkt, indem die Aufnahmen der Straßenschlachten, die sich bis in die frühen Morgenstunden zogen, mit dem Song „Burnin’ and Lootin‘“ von Bob Marley unterlegt werden.

„(That’s why we gonna be)
Burnin’ and a-lootin’ tonight …“

Durch die Wahl des Songs stellt sich der Film deutlich auf die Seite der jugendlichen Banlieue-Bewohner. Diese Vermutung wird anhand der nächsten Szene wieder verstärkt, in der der Zuschauer einen ersten Einblick auf Saïd, einen der im Vordergrund stehenden Protagonisten bekommt. Während ein Schuss im Hintergrund fällt, fährt die Kamera auf Saïd zu. Er lässt die Augen geschlossen, bis sein Gesicht in der Nahaufnahme zu sehen ist. Dann öffnet er sie wieder. Sein stark frontal ausgerichteter Blick durchdringt die Kamera und zerstört damit die vierte Wand. Ab diesem Zeitpunkt fühlt man sich mit der Figur verbunden. Diese Szene ist ebenfalls bedeutend, weil sie spiegelverkehrt auf dieselbe Weise am Ende des Filmes gezeigt wird. Man sieht Saïd, er schließt seine Augen und ein Schuss fällt. Diese Szenen umrahmen die Handlung des Filmes.

Saïd Taghmaoui spielt den jungen Saïd mit arabischer Herkunft. Er ist ein enger und treuer Verbündeter von Vinz, dem er überall hin folgt. Er plaudert viel und gern. Falls er nicht gerade zwischen Vinz und Hubert vermittelt, unterhält er die Gruppe mit Geschichte und Witzen, die er nutzt, um seine eigene Hoffnungslosigkeit zu kaschieren. Vor allem fällt er immer wieder durch provokante Äußerungen auf. In der Bahn wird er von einer jungen Bettlerin nach Geld gefragt. Darauf antwortet er:

„Was willst du denn von mir? Na los, verschwinde! Mein Vater is im Knast, meine Mutter is im Knast, meine Schwester is im Knast! Also versuch’s mal mit Arbeit, wie die anderen auch!“

Vinz wird von Vincent Cassel verkörpert. Seine Familie entstammt jüdischer Herkunft. Der Umstand, dass sein Freund Abdel lebensgefährlich von einem Polizisten verletzt wurde, macht ihn extrem wütend. Er schwört Rache, sollte Abdel sterben. Er besitzt ein temperamentvolles Wesen, neigt allerdings auch zu unbeherrschten Wutausbrüchen, die ihn oft in Konflikt mit Hubert oder dem Gesetz bringen.

Hubert: „Willst Du’n Bullen töten?“

Vinz: „Ich gleiche die Bilanz aus. Ich habe es ein für alle Mal satt, mir täglich dieses System reinzuziehen. Dann werden sie ein für alle Mal begreifen, dass wir nicht die andere Wange hinhalten.“

Hubert: „Wenn du in die Schule gegangen wärst, wüsstest du, dass Hass nur Hass nach sich zieht.“

Vinz: „Ich war nicht in der Schule, ich war auf der Straße.“

Vinz Haltung gegenüber dem Regime und sein Wesen werden besonders in folgender Szene deutlich, in der er Robert DeNiros Monologszene kurz vor dessen Amoklauf aus dem Film Taxi Driver imitiert.

„Laberst du mich an?“

Vinz albert rum, schneidet aggressive Grimassen, hält seine Hand zielgerichtet gegen sein Spiegelbild und formt sie zu einer Pistole. Aus seinem Inneren bricht unabdingbare Wut heraus. Für ihn scheint nur noch Gewalt der einzige Weg aus dieser ausweglos erscheinenden Situation zu sein.

Der letzte im Bunde ist Hubert, gespielt von Hubert Koundé. Seine Familie entstammt dem Benin. Sein Charakter sorgt für Vernunft, aber auch für bissigen Humor in der Runde. Wenn er zu Wort kommt, dann spricht er sehr bedacht. Durch die Eröffnung eines Box-Klubs versucht er, der Gewaltspirale der Banlieue zu entfliehen. Nachdem er diesen allerdings in der Nacht der Krawalle
verliert, scheint seine Gefühlslage gespalten zu sein. Das zeigt auch dieser kurze Dialog zwischen Saïd und Hubert:

„Ich dachte, du rauchst nich mehr!“

– „Das dachte ich auch!“

Die drei Jugendlichen stammen aus unterschiedlichen Einwandererfamilien, doch ihre Perspektivlosigkeit und ihr gemeinsames Leid als Randgruppe halten sie in den Banlieue zusammen. Die komplette Geschichte lässt sich ohne Probleme durch den Zusammenhalt der drei Freunde tragen. Obwohl sie zu Kriminalität und Gewalt neigen, kommt man nicht davon ab, Sympathie für Vinz, Saïd und Hubert zu empfinden. Die unglaubliche Harmonie zwischen den drei unterschiedlichen Jugendlichen ist als besonders anzusehen. Ihre intimen Gespräche zeigen, dass sie auch nur Menschen mit Gefühlen und Wünschen nach einer Perspektive sind.

Diese Szenen sorgen dafür, dass man sich als Teil des Trios fühlt. Es ist zu vermuten, dass sich ein großer Teil der Zuschauer mit ihnen identifizieren kann.
Aus ihrer Not heraus sprühen sie nur so vor ungenutzter Energie und suchen die Konfrontation mit der Polizei, die sie als Übel ihrer Situation sehen. Vor allem sparen sie nicht mit Kraftausdrücken. Die sprachlichen Unterschiede im Vergleich zur restlichen Pariser Gesellschaft führen allerdings immer wieder zu Konflikten. Als sie ihren Freund Abdel im Krankenhaus besuchen wollen, wird ihnen der Weg von einem Polizisten versperrt. Bald darauf entbrennt ein Streit. Schnell sind die Jugendlichen mit ihren Argumenten am Ende und wehren sich nur noch mit unangebrachten Beschimpfungen.

Die bedrückende Atmosphäre wird durch die Farbgebung des Filmes in schwarz-weiß Bildern intensiviert. Besonders gut kommt dabei das trostlose und eintönige Leben in den Betonvierteln zur Geltung.
Der Film zeigt 24 Stunden nach den Ausschreitungen im Leben der drei Jugendlichen. Als Stilmittel verwendet der Film die Einblendung der Uhrzeit zur jeweiligen Tageszeit, wodurch der Film in entsprechende Szenen unterteilt wird.
Auch die Kameraarbeit unter Pierre Aïm sticht durch Facettenreichtum hervor. Der Stil verändert sich in der Mitte des Filmes. Während in den verspielten und lebendigen Tagesaufnahmen der Banlieue-Szenen unterschiedliche Kameraeinstellungen und -fahrten, von Tracking-Shots bis zu rasanten Kameraflügen, genutzt werden, enden diese, als die Jugendlichen in der Pariser Innenstadt ankommen. Nun werden die Szenen vorwiegend statischer und einfacher, was an der Benutzung von statischer Kamera und Handkamera liegt.

Französischer Hip-Hop, von Gruppen wie Assassin oder NTM, prägt den Soundtrack des Filmes. Die kraftvollen Beats und realitätsnahen Texte gelangen vorwiegend durch Gettoblaster und überdimensionale Lautsprecheranlagen in den Vordergrund der Handlung. Dabei liegen Fiktion und Wirklichkeit sehr nah beieinander, da die Gruppen aus demselben Milieu wie die drei Protagonisten stammen.

Eine zentrale Bedeutung für den Film spielt die Toilettenszene in Paris, in der die drei Jungs auf einen alten Mann treffen. Dieser erzählt von seiner und Grunwalskis Deportation nach Sibirien, die nicht nur die Drei ins Grübeln bringt. Eingeengt in den Viehwaggons war es unmöglich sein Geschäft zu verrichten. Für einen Moment verließ Grunwalski den stehengebliebenen Zug, um außerhalb in der Eiseskälte einen Ort dafür zu finden. Aber der Zug fuhr ab, noch bevor er es beenden konnte. Mit offener Hose rannte er dem abfahrenden Zug hinter her. Sein Freund, der Erzähler der Begebenheit, streckte ihm noch mehrmals die Hand entgegen. Doch jedes Mal wenn dieser versuchte danach zu greifen, verlor er seine Hose und griff stattdessen nach ihr. Die Geschichte endet mit dem Tod Grunwalskis durch Erfrieren.

Exakt wie die drei Charaktere kämpft Grunwalski mit seinem innerlichen Konflikt. Indem er nicht davon abkam, seine Hose hochzuziehen, verlor er den Anschluss und starb. Übertragen auf die Welt der Jugendlichen ist keiner in der Lage Kompromisse zu finden, um den Krieg innerhalb und um die Banlieues zu beenden.
Stattdessen spitzt sich die Lage immer mehr zu. Hass zieht mehr Hass mit sich. Auch nach mehr als 10 Jahren nach Veröffentlichung des Filmes gibt es immer wieder Unruhen, zuletzt Anfang des Jahres. (Weitere Informationen unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/frankreich-dievergessenen-1.3371375). Die daraus resultierende Angst der Mittelschicht machen sich vorwiegend Rechtspopulisten, wie Marine Le Pen zunutze. (Weitere Informationen unter: https://www.bpb.de/internationales/europa/frankreich/152511/problemgebiet-banlieue).

Der Film ist großartig, weil er eine noch immer brandaktuelle Thematik aufgreift, die für nahezu alle Gesellschaften bedeutend ist und diese in eine originelle und facettenreiche Produktion umsetzt. Thematisch knüpft der Film an Filmen, wie Boyz N The Hood oder City Of God an.

„Pflichtstoff, nicht nur im Französischunterricht, denn die Welt gehört uns.“
Fabian Hempel (s. http://www.filmstarts.de/kritiken/12551/kritik.html)

 

 

kritisiert im Wintersemester 2017/2018