City of God…: eine Rezension von Janett Ohoven

„Wenn du wegläufst, fangen sie dich. Wenn du bleibst, fressen sie dich“, so lauten die Aussichten, die ein Leben hat, wenn du aus der Stadt Gottes kommst (engl. „City of God“). Dort hat gefühlt jeder eine Waffe und diese kommt auch zum Einsatz. Ein Leben zählt dort nicht viel im Kampf um Geld, Macht, Einfluss und das nackte Überleben.

Es ist ein schier endlos scheinender Kreislauf von Gewalt, wo schon die Kinder das reflektieren, was ihnen von ihrer Umgebung vorgelebt wird. Sie haben im Milieu der skrupellosen Drogenbosse keine andere Wahl, als sich ihrem Schicksal schnell zu fügen und selbst wehrhaft zu werden. Sie greifen zur Waffe und werden – wie im Fall von Löckchen (später Locke) – zu blutrünstigen Mördern.

Locke ändert durch seinen Überfall auf ein Hotel das Klima in der Siedlung für immer, als er dort seine unbändige Lust am Töten entdeckt. Er dominiert als späterer Bandenchef und Drogenopportunist den Film durch eine Vielzahl von abscheulichen Taten. Doch gebannt fiebert der Zuschauer mit einem anderen Charakter mit, dessen Stimme aus dem Off gleichzeitig die Geschichte seiner Stadt erzählt. Über 2 Stunden nimmt er den Zuschauer auf eine 15 Jahre lange Reise mit, die keinen narrativen Anfang oder Endpunkt zu haben scheint.

Der Junge hinter der Stimme ist Buscapé. Er ist einer von vielen, die versuchen, der kriminellen Siedlung Nahe Rio de Janeiro zu entkommen. Doch anders als die anderen, scheint er ganz gute Chancen zu haben. Er möchte keinen Menschen töten, Drogen verkaufen und irgendwann in einer Blutlache am Straßenrand enden. Er möchte Fotograf werden und arbeitet hart daran. Ausgerechnet seine elende Herkunft soll ihn den entscheidenden Schritt näher an die Erfüllung seines Traumes bringen, denn Buscapé hat journalistische Zugänge, die sonst keiner hat.

Jedoch befindet er sich – wie bereits in der Einstiegsszene deutlich wird – zwischen den Fronten. Er steht zwischen den Gangs und der Polizei, die beide ihre Waffen auf ihn gerichtet haben. Entweder wird er zum Verräter und zieht den Unmut seiner Freunde auf sich oder er wird kriminell, um sich die Mittel zu beschaffen, aus der Stadt auszubrechen und gerät dadurch in Konflikt mit dem Gesetz. So oder so, scheint sein Todesurteil besiegelt. Der Film zeigt Buscapé dabei, wie er reflektiert, für welche Seite er sich wohl entscheidet, um zu überleben.

Der Film ist unheimlich schnell, sodass man aufpassen muss, um nicht zu verpassen, wenn einer der Hauptcharaktere wegfällt. Doch hat dies keine großen Auswirkungen auf die Handlung, da die Stimmung der Charaktere durchweg sehr angespannt und von Racheakten derart durchzogen ist, dass ein einzelner Mord bei der Aggressivität nicht groß ins Gewicht fällt. Die Hierarchien der Banden passen sich relativ schnell an Verluste an und ersetzten die weggefallenen Personen gleich mit der nächsten Generation, was die Aussichtslosigkeit der Lage noch einmal unterstreicht.

Es scheint zwar aufgrund der vielen Zeitsprünge, hektischer Kameraführung, zahlloser Charaktere und verworrener Story, die nahtlos aufeinander aufbaut, einiges zu passieren, doch im Grunde geht es doch immer nur um das eine: Schießen und Erschossen werden. Kurz aufgelockert durch eine kleine Lovestory. Es wirkt dadurch manchmal etwas einfallslos, was die Konfliktbewältigung betrifft, obgleich der Film nur die Realität widerspiegelt. Zudem wirft der Film auch die wichtige Frage auf: Wie entflieht man diesem Kreislauf?

Die „City of God“ ist eine real existierende Favela in Rio de Janeiro – wie man ein brasilianisches Armenviertel bezeichnet, deren Bewohner meist aufgrund von Armut, mangelnder Perspektive, Nichtbeschäftigung und geringer Bildung kriminell werden. Die Menschen darin fühlen sich oft wie auf dem Abstellgleis der Gesellschaft.

Einst wurden in der „City of God“ tatsächlich an jeder Straßenecke Drogen verkauft und jeder war bewaffnet. Heute, fast 20 Jahre nach dem Erscheinen des Films, sieht es dort etwas anders aus. In der Stadt wird nun 24 Stunden am Tag Polizei stationiert – ein revolutionärer Zustand für die Favelas. Die Beamten werden zunehmend als wichtige Schutzfunktion für ein besseres Leben von der Zivilbevölkerung akzeptiert und gewinnt dessen Vertrauen. Die Drogendealer können nicht mehr mit ihren Waffen auf der Straße stehen und die Mordrate ist drastisch gesunken.

So ist die Siedlung „City of God“ ein Modelbeispiel für den Erfolg dieses Vorgehens. Jedoch bleibt es nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, und eine, aufgrund der Medienpräsenz der durch den Film bekannten Favela, reine Augenwischerei im Zuge von Großereignissen wie der Fußball-WM oder den Olympischen Spielen. Denn nur rund 2 Duzend der insgesamt 600 Favelas in Rio werden so behandelt.

Die Stadt nimmt eine wichtige Rolle im Film ein. Sie ist bildlich und in der Mentalität der Figuren omnipräsent. Die Handlung hängt von ihrer Umgebung ab und kommt durch sie überhaupt erst zu ihrer Existenz. Auffällig ist vor allem der Farbwechsel von anfänglich warmen Tönen, zu dunklen, kühlen Blautönen, als die Kinder der Generation, die im Film beleuchtet wird, erwachsen und mit der Realität konfrontiert werden.

Die Erzählerstimme wird geschickt eingesetzt. Sie führt den Zuschauer und Zuhörer in die Szenen ein und holt sie wieder raus und macht dabei neugierig auf mehr, indem sie beispielsweise andeutet, dass gewisse kurz auftretende Figuren später noch wichtig werden. So deckt sie sich auch gut mit Buscapés späterer journalistischer Tätigkeit. Noch dazu sorgt sie dafür, das Buscapé als eine der eher zurückhaltenden Figuren trotz der Vielzahl an Charakteren nicht untergeht und noch dazu erfrischend ruhig und normal wirkt.

Die Story bezieht jeden Charakter in den Handlungsstrang mit ein und ist dadurch nicht beschränkt auf einzelne Orte und Figurenbeziehungen. Jeder hat mit jedem zu tun und so wirkt der Film relativ frei in seiner Beweglichkeit. Es passiert zudem deutlich mehr, als der Betrachter in einer einzelnen Szene mitbekommt – was durch einige Split-Screens verdeutlich wird – Die Filmwelt wirkt dadurch sehr multidimensional und real. Nicht zuletzt durch den Einsatz von überwiegend Laiendarstellern wird diese authentische Atmosphäre noch verstärkt.

Mit der Handkamera werden viele außergewöhnliche, dynamische Perspektiven gezeigt, die den Betrachter fühlen lassen, als wäre er mittendrin im Geschehen und würde beinahe durch die Augen der Figuren schauen. Regisseur Fernando Meirelles und sein Team wurden dafür sogar für den Oscar nominiert, den sie zum Bedauern vieler Filmfans und Ranglisten wie imdb nicht erhalten haben, die den Film als einer der besten Werke überhaupt einordnen.

Was den Film besonders sehenswert macht, sind seine Bilder und ein sehr vielschichtig aufgebauter Plot. Doch auch sein dokumentarischer Charakter ist wertvoll. Er macht auf wichtige soziale Probleme wie die Ungleichheit zwischen Arm und Reich in den Favelas aufmerksam und zeigt vor allem nicht das Postkartenimage, welches von Rio in den Medien gern werbeträchtig propagiert wird. Dies hat zu Debatten in Brasilien und einigen Fortschritten im Umgang mit der weniger schönen Seite dieses Paradieses geführt, die sonst eher im Dunkeln bleibt.

verfasst im Sommersemester 2018