Filmdaten: Hass – La Haine

Frankreich 1995

(Originaltitel: La haine)

Regie: Mathieu Kassovitz

Drehbuch:Mathieu Kassovitz

Produktion: Adeline Lecallier // Alain Rocca // Christophe Rossignon

Musik: Assassin, sowie Songs von Frank Loesser, Bob Marley und DJ Cut Killer

Kamera: Pierre Aïm

Schnitt: Mathieu Kassovitz // Scott Stevenson

Besetzung: Vincent Cassel: Vinz // Hubert Koundé: Hubert // Saïd Taghmaoui: Saïd // Abdel Ahmed Ghili: Abdel // Héloïse Rauth: Sarah // Rywka Wajsbrot: Vinz‘ Großmutter // Olga Abrego: Vinz‘ Tante // Laurent Labasse: Koch // Choukri Gabteni: Saïds Bruder // Benoît Magimel: Benoît // Medard Niang: Médard // Arash Mansour: Arash // Édouard Montoute: Darty // Philippe Nahon: Polizist //  u.a.

Länge: 96 Minuten , s/w

FSK:  12

Hier geht’s zum Trailer!

 

Hass…: eine Rezension von Rebecca Preuß

Quelle: Institut für Kino und Filmkultur (URL: http://www.film-kultur.de/filme/filmhefte/hass.pdf)

Woher kommt all der Hass?

Plötzlich auftauchender, abgrundtiefer und lang anhaltender Hass.

Kennst du das Gefühl?

Wenn ja, wie fühlt es sich an?

Galt dieser Hass jemanden aus deinem Umfeld?

Entstand er aus Überzeugung?

Drückte er sich durch Abneigung, Beschimpfungen oder gar Gewalt aus?

Wann verschwand dieser Zustand?

 

Hass entsteht nicht grundlos. Er entwickelt sich im Prozess, ist facettenreich und setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen. In einer Gesellschaft ernährt sich Hass vorwiegend von Angst. Angst vor dem Fall. Doch, was ist, wenn du schon längst fällst? Was hast du dann noch zu verlieren?

 

„Dies ist die Geschichte einer Gesellschaft, die fällt. Während sie fällt, sagt sie, um sich zu beruhigen, immer wieder: Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut. Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung!“

 

Die Welt der drei Jugendlichen Vinz (Vincent Cassel), Hubert (Hubert Koundé) und Saïd (Saïd Taghmaoui) befindet sich im Fall. In ihrer Gemeinde Chanteloup-les-Vignes, einer Trabantenstadt rings um Paris (Banlieue) gehören Arbeitslosigkeit, städtische Verwahrlosung und Gewalt zur Tagesordnung. Der kollektive Hass der jugendlichen Chantelouvais entlädt sich in der vergangenen Nacht in einer Straßenschlacht gegen die Polizei. Bei der vorherigen Schlacht wurde ihr 16-jähriger Freund Abdel durch die Polizei lebensgefährlich verletzt und liegt seitdem im Koma. Darüber hinaus geschieht in dieser Nacht ein entscheidendes Ereignis. Einer der Polizisten verliert in den Krawallen seine Dienstwaffe. Die Stimmung beider Seiten ist mehr als angespannt. Es kommt zu weiteren Auseinandersetzungen. Die nächsten 24 Stunden sind maßgeblich. Wird Abdel überleben? Wie wird die Polizei mit der vergangenen Nacht umgehen? Wer hat die Waffe? Wird sie dem Finder einen Vorteil verschaffen?

Der Film wurde durch eine wahre Begebenheit inspiriert. Diese wird bereits in der Titelsequenz deutlich, in der Aufnahmen der Aufstände in den Banlieue 1993 gezeigt werden, die nach der Ermordung Makome M’Bowole mit entstanden. Während eines Verhörs setzte ein Polizist seine Pistole auf die Schläfe des siebzehnjährigen Zairer und drückte, gewollt oder nicht, ab. Der Tod des Jungen löste heftige Unruhen in den Pariser Vororten aus, die die Polizisten schlussendlich gewaltsam niederschlugen. (Weitere Informationen findet man unter: http://www.zeit.de/1993/16/hueter-einer-gnadenlosen-ordnung.)

Die Einsetzung der dokumentarischen Unruhen direkt am Anfang des Filmes bilden den Schauplatz der Handlung und lassen die darauffolgenden Geschehnisse einordnen. Im Gegensatz zu einer Dokumentation bleibt der Film allerdings nicht neutral. Direkt zu Anfang schildert ein Mann, augenscheinlich im Alleingang, sein Unbehagen vor einer Horde von schwer bewaffneten Polizisten.

„Ihr seid doch alle nur Mörder! Ihr könnt schießen, für euch ist das leicht! Ihr habt Waffen, wir haben nur Steine!“

Diese Position wird verstärkt, indem die Aufnahmen der Straßenschlachten, die sich bis in die frühen Morgenstunden zogen, mit dem Song „Burnin’ and Lootin‘“ von Bob Marley unterlegt werden.

„(That’s why we gonna be)
Burnin’ and a-lootin’ tonight …“

Durch die Wahl des Songs stellt sich der Film deutlich auf die Seite der jugendlichen Banlieue-Bewohner. Diese Vermutung wird anhand der nächsten Szene wieder verstärkt, in der der Zuschauer einen ersten Einblick auf Saïd, einen der im Vordergrund stehenden Protagonisten bekommt. Während ein Schuss im Hintergrund fällt, fährt die Kamera auf Saïd zu. Er lässt die Augen geschlossen, bis sein Gesicht in der Nahaufnahme zu sehen ist. Dann öffnet er sie wieder. Sein stark frontal ausgerichteter Blick durchdringt die Kamera und zerstört damit die vierte Wand. Ab diesem Zeitpunkt fühlt man sich mit der Figur verbunden. Diese Szene ist ebenfalls bedeutend, weil sie spiegelverkehrt auf dieselbe Weise am Ende des Filmes gezeigt wird. Man sieht Saïd, er schließt seine Augen und ein Schuss fällt. Diese Szenen umrahmen die Handlung des Filmes.

Saïd Taghmaoui spielt den jungen Saïd mit arabischer Herkunft. Er ist ein enger und treuer Verbündeter von Vinz, dem er überall hin folgt. Er plaudert viel und gern. Falls er nicht gerade zwischen Vinz und Hubert vermittelt, unterhält er die Gruppe mit Geschichte und Witzen, die er nutzt, um seine eigene Hoffnungslosigkeit zu kaschieren. Vor allem fällt er immer wieder durch provokante Äußerungen auf. In der Bahn wird er von einer jungen Bettlerin nach Geld gefragt. Darauf antwortet er:

„Was willst du denn von mir? Na los, verschwinde! Mein Vater is im Knast, meine Mutter is im Knast, meine Schwester is im Knast! Also versuch’s mal mit Arbeit, wie die anderen auch!“

Vinz wird von Vincent Cassel verkörpert. Seine Familie entstammt jüdischer Herkunft. Der Umstand, dass sein Freund Abdel lebensgefährlich von einem Polizisten verletzt wurde, macht ihn extrem wütend. Er schwört Rache, sollte Abdel sterben. Er besitzt ein temperamentvolles Wesen, neigt allerdings auch zu unbeherrschten Wutausbrüchen, die ihn oft in Konflikt mit Hubert oder dem Gesetz bringen.

Hubert: „Willst Du’n Bullen töten?“

Vinz: „Ich gleiche die Bilanz aus. Ich habe es ein für alle Mal satt, mir täglich dieses System reinzuziehen. Dann werden sie ein für alle Mal begreifen, dass wir nicht die andere Wange hinhalten.“

Hubert: „Wenn du in die Schule gegangen wärst, wüsstest du, dass Hass nur Hass nach sich zieht.“

Vinz: „Ich war nicht in der Schule, ich war auf der Straße.“

Vinz Haltung gegenüber dem Regime und sein Wesen werden besonders in folgender Szene deutlich, in der er Robert DeNiros Monologszene kurz vor dessen Amoklauf aus dem Film Taxi Driver imitiert.

„Laberst du mich an?“

Vinz albert rum, schneidet aggressive Grimassen, hält seine Hand zielgerichtet gegen sein Spiegelbild und formt sie zu einer Pistole. Aus seinem Inneren bricht unabdingbare Wut heraus. Für ihn scheint nur noch Gewalt der einzige Weg aus dieser ausweglos erscheinenden Situation zu sein.

Der letzte im Bunde ist Hubert, gespielt von Hubert Koundé. Seine Familie entstammt dem Benin. Sein Charakter sorgt für Vernunft, aber auch für bissigen Humor in der Runde. Wenn er zu Wort kommt, dann spricht er sehr bedacht. Durch die Eröffnung eines Box-Klubs versucht er, der Gewaltspirale der Banlieue zu entfliehen. Nachdem er diesen allerdings in der Nacht der Krawalle
verliert, scheint seine Gefühlslage gespalten zu sein. Das zeigt auch dieser kurze Dialog zwischen Saïd und Hubert:

„Ich dachte, du rauchst nich mehr!“

– „Das dachte ich auch!“

Die drei Jugendlichen stammen aus unterschiedlichen Einwandererfamilien, doch ihre Perspektivlosigkeit und ihr gemeinsames Leid als Randgruppe halten sie in den Banlieue zusammen. Die komplette Geschichte lässt sich ohne Probleme durch den Zusammenhalt der drei Freunde tragen. Obwohl sie zu Kriminalität und Gewalt neigen, kommt man nicht davon ab, Sympathie für Vinz, Saïd und Hubert zu empfinden. Die unglaubliche Harmonie zwischen den drei unterschiedlichen Jugendlichen ist als besonders anzusehen. Ihre intimen Gespräche zeigen, dass sie auch nur Menschen mit Gefühlen und Wünschen nach einer Perspektive sind.

Diese Szenen sorgen dafür, dass man sich als Teil des Trios fühlt. Es ist zu vermuten, dass sich ein großer Teil der Zuschauer mit ihnen identifizieren kann.
Aus ihrer Not heraus sprühen sie nur so vor ungenutzter Energie und suchen die Konfrontation mit der Polizei, die sie als Übel ihrer Situation sehen. Vor allem sparen sie nicht mit Kraftausdrücken. Die sprachlichen Unterschiede im Vergleich zur restlichen Pariser Gesellschaft führen allerdings immer wieder zu Konflikten. Als sie ihren Freund Abdel im Krankenhaus besuchen wollen, wird ihnen der Weg von einem Polizisten versperrt. Bald darauf entbrennt ein Streit. Schnell sind die Jugendlichen mit ihren Argumenten am Ende und wehren sich nur noch mit unangebrachten Beschimpfungen.

Die bedrückende Atmosphäre wird durch die Farbgebung des Filmes in schwarz-weiß Bildern intensiviert. Besonders gut kommt dabei das trostlose und eintönige Leben in den Betonvierteln zur Geltung.
Der Film zeigt 24 Stunden nach den Ausschreitungen im Leben der drei Jugendlichen. Als Stilmittel verwendet der Film die Einblendung der Uhrzeit zur jeweiligen Tageszeit, wodurch der Film in entsprechende Szenen unterteilt wird.
Auch die Kameraarbeit unter Pierre Aïm sticht durch Facettenreichtum hervor. Der Stil verändert sich in der Mitte des Filmes. Während in den verspielten und lebendigen Tagesaufnahmen der Banlieue-Szenen unterschiedliche Kameraeinstellungen und -fahrten, von Tracking-Shots bis zu rasanten Kameraflügen, genutzt werden, enden diese, als die Jugendlichen in der Pariser Innenstadt ankommen. Nun werden die Szenen vorwiegend statischer und einfacher, was an der Benutzung von statischer Kamera und Handkamera liegt.

Französischer Hip-Hop, von Gruppen wie Assassin oder NTM, prägt den Soundtrack des Filmes. Die kraftvollen Beats und realitätsnahen Texte gelangen vorwiegend durch Gettoblaster und überdimensionale Lautsprecheranlagen in den Vordergrund der Handlung. Dabei liegen Fiktion und Wirklichkeit sehr nah beieinander, da die Gruppen aus demselben Milieu wie die drei Protagonisten stammen.

Eine zentrale Bedeutung für den Film spielt die Toilettenszene in Paris, in der die drei Jungs auf einen alten Mann treffen. Dieser erzählt von seiner und Grunwalskis Deportation nach Sibirien, die nicht nur die Drei ins Grübeln bringt. Eingeengt in den Viehwaggons war es unmöglich sein Geschäft zu verrichten. Für einen Moment verließ Grunwalski den stehengebliebenen Zug, um außerhalb in der Eiseskälte einen Ort dafür zu finden. Aber der Zug fuhr ab, noch bevor er es beenden konnte. Mit offener Hose rannte er dem abfahrenden Zug hinter her. Sein Freund, der Erzähler der Begebenheit, streckte ihm noch mehrmals die Hand entgegen. Doch jedes Mal wenn dieser versuchte danach zu greifen, verlor er seine Hose und griff stattdessen nach ihr. Die Geschichte endet mit dem Tod Grunwalskis durch Erfrieren.

Exakt wie die drei Charaktere kämpft Grunwalski mit seinem innerlichen Konflikt. Indem er nicht davon abkam, seine Hose hochzuziehen, verlor er den Anschluss und starb. Übertragen auf die Welt der Jugendlichen ist keiner in der Lage Kompromisse zu finden, um den Krieg innerhalb und um die Banlieues zu beenden.
Stattdessen spitzt sich die Lage immer mehr zu. Hass zieht mehr Hass mit sich. Auch nach mehr als 10 Jahren nach Veröffentlichung des Filmes gibt es immer wieder Unruhen, zuletzt Anfang des Jahres. (Weitere Informationen unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/frankreich-dievergessenen-1.3371375). Die daraus resultierende Angst der Mittelschicht machen sich vorwiegend Rechtspopulisten, wie Marine Le Pen zunutze. (Weitere Informationen unter: https://www.bpb.de/internationales/europa/frankreich/152511/problemgebiet-banlieue).

Der Film ist großartig, weil er eine noch immer brandaktuelle Thematik aufgreift, die für nahezu alle Gesellschaften bedeutend ist und diese in eine originelle und facettenreiche Produktion umsetzt. Thematisch knüpft der Film an Filmen, wie Boyz N The Hood oder City Of God an.

„Pflichtstoff, nicht nur im Französischunterricht, denn die Welt gehört uns.“
Fabian Hempel (s. http://www.filmstarts.de/kritiken/12551/kritik.html)

 

 

kritisiert im Wintersemester 2017/2018

Hass…: ein Text von Isabell Müller

Zusammenfassung:

„Dies ist die Geschichte von einem Mann, der aus dem 50. Stock von einem Hochhaus fällt. Während er fällt, wiederholt er, um sich zu beruhigen, immer wieder: „Bis hierher lief es noch ganz gut, bis hierher lief es noch ganz gut, bis hierher lief es noch ganz gut.“ Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung!“, so beginnt Hubert den Film „Hass“, der einen Tag im Leben von Vinz, Hubert und Saïd zeigt. Die drei Freunde leben in den Banlieues Frankreichs, einem Ort, der so dargestellt wird, als würde es niemanden wundern wenn jemand an einer Überdosis Drogen stirbt oder auf offener Straße erschossen wird.

Bei einer Nächtlichen Auseinandersetzung von Jugendlichen mit der Polizei, wird neben vielen zivilen Opfern auch ihr gemeinsamer Freund Abdel so stark verletzt, dass er fortan im Krankenhaus liegt.

Vinz findet in dieser Nacht eine Waffe und schwört sich, sich damit zu rächen, sollte Abdel wegen dieses Vorfalles sterben.

 

Kritik:

Mit „Hass“ erschuf Mathieu Kassovitz einen Film, dessen Geschichte sich problemlos in 10 Minuten erzählen lies. Die drei Jungs aus dem “Ghetto“: Vinz, Hubert und Saïd: klauen, beleidigen, haben eine niedrige Aggressionsschwelle und bis auf Hubert bekommt keiner der Protagonisten einen anständigen Satz formuliert. Kassovitz setzt die Klischees der Jugendlichen aus den Banlieues in den Vordergrund, welche nicht fiktiv oder übertrieben, sondern der Realität entsprechend sind.

Leider nervt der Film mit provokanten Witzen, wie: „Also der Typ kommt da an und sagt zu ihm: Für Geld würde ich wirklich alles tun. Für Geld würde ich sogar töten! Dann guckt er seinen Kumpel an und sagt: Für Geld würde ich sogar dich umbringen. Der andere fängt voll an zu schwitzen und dann sagt er: Ach was, ich mach doch nur Spaß. Du bist mein bester Freund! Dich töte ich natürlich gratis!“ und Sinneslücken, wie das plötzliche Auftauchen einer Kuh, welches im weiteren Verlauf des Filmes nicht erklärt wird.

Huberts Entwicklung im Laufe des Filmes ist eines der wenigen Dinge die tatsächlich eine Wirkung auf den Zuschauer haben. Das Zitat am Anfang, spiegelt Huberts Entwicklung wieder: für ihn zählt nicht was oder wer man mal war, sondern nur wer man am Ende wird und für was man sich entscheidet.

Trotz des emotionalen Endes und der im Laufe des Filmes merkbaren Tiefgründigkeit der Charaktere, bspw. die Entwicklung Huberts, oder auch, dass Vinz sich gegen die Gewalt entscheidet, war der Film insgesamt zu vorhersehbar.

Ihm fehlt, aufgrund der gewollt witzige Art, die Ernsthaftigkeit, die diese auch heute noch aktuelle Problematik braucht.

Auch 2005 kam es in den Banlieues erneut zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei, aufgrund eines ähnlichen Falles wie der im Film beschriebene. Während den Straßenschlachten wurden unter anderem Fahrzeuge, öffentliche Gebäude und Institutionen zerstört. Dieses Problem der Französischen Politik sollte man ernst nehmen und nicht mit einem witzigen Film abtun…

 

 

 geschrieben im Wintersemester 2017/2018

 

Quellen:

https://www.bpb.de/internationales/europa/frankreich/152511/problemgebiet-banlieue

https://www.cinemaxx.de/kiel/kinoprogramm/archiv/hass/10562

http://www.filmzitate.info/index-link.php?link=http://www.filmzitate.info/suche/film-zitate.php?film_id=2491

https://de.wikipedia.org/wiki/Hass_(Film)

Hass…: eine Kritik von Ann Catherine Schlüter

Quelle: Institut für Kino und Filmkultur (URL: http://www.film-kultur.de/filme/filmhefte/hass.pdf)

„Dies ist die Geschichte von einem Mann, der aus dem 50. Stock von ’nem Hochhaus fällt. Während er fällt, wiederholt er, um sich zu beruhigen, immer wieder: ‚Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut…‘. Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung!“

– eine Parabel zum Filmgeschehen und zur gesellschaftlichen Entwicklung Frankreichs in den 90er-Jahren, aber eins nach dem anderen:

Inhalt

Der muslimisch geprägte Said (Said Taghmaoui), der jüdisch geprägte Vinz (Vincent Cassel) und der christlich geprägte Hubert (Hubert Koundé) wohnen in einem der unzähligen Sozialwohnklötzen in dem nördlich von Paris gelegenen Vorort Chanteloup-les-Vignes. Ihr Alltag ist geprägt von Langeweile und nicht endender Zeit, die immer wieder mit Gewalttaten gegenüber der Polizei gefüllt wird. Gerade als ihr Freund Abdel aufgrund eines polizeilichen Übergriffs ins Koma fällt, stachelt sich die Wut und Aggression im Viertel hoch. Gesucht wird Provokation und Rache gegenüber der Justiz. In „Hass“ geht es um Freundschaft und Zusammenhalt, genauso wie um Unzufriedenheit und dem jugendlichen Selbstfindungsprozess.

Kritik

HASS kann sich in vielen Facetten zeigen: das Wort, welches dem Gegenüber an den Kopf geworfen wird und Angst auslöst oder kränkt. Die Tat als Steigerung des Wortes, jedoch auch unabhängig davon zu betrachten, kann sich an eine konkrete Person richten oder exemplarisch für eine Gesellschaftsgruppe gelten. Bei der Tat kann eine Waffe behilflich sein. Thematisch passend lautet die Widmung des Filmes „Ihr habt Waffen, wir haben nur Steine“, die den Personen zugute fällt, die Opfer von Gewalttaten wurden.

Erst vor wenigen Tagen beschloss der französische Präsident Emmanuel Macron die Gesetze gegen häusliche Gewalt zu verschärfen. Präventionsmaßnahmen nennt man das, doch werden dadurch all die Frauen wieder lebendig, die aufgrund ihrer Misshandlungen verstorben sind? Inwiefern sind Regelverstöße messbar, wenn die Gewalttaten hinter verschlossenen Türen stattfinden? Warum erst interagieren, wenn es schon zu spät ist? Wenn die Gründe unbekannt bleiben und die Spirale der Gewalt schon in Umlauf gebracht wurde?

Kassovitz Film basiert auf wahren Gegebenheiten, welches die Ernsthaftigkeit der Gewaltthematik in den französischen Vororten vor Augen führt. In seiner bewusst gewählten schwarz-weiß-Ästhetik repräsentiert er, die häufig willkürlich gewählten Schuldzuweisungen. In „Hass“ geht es in erster Linie um eine Kritik an die Sozialpolitik Frankreichs. Sozialbauten, die immer höher gebaut werden, der Mangel an Arbeitsperspektive, welches die Jugend dazu verleitet erst gar nicht mehr die Schule aufzusuchen und sich stattdessen das Geld mit Drogen- und Schwarzmarkthandel zu verdienen. Die angestaute Frustration zeigt sich schließlich durch ansteigende Gewaltausbrüche gegenüber der staatlichen Justiz, die zwar durchgreifen soll, aber statt Gerechtigkeit und Perspektiven zu bieten, in die Machtkämpfe einsteigt. Als die drei Hauptdarsteller in den Besitz einer Waffe kommen, scheint die angespannte Situation auszuufern.

Umso interessanter ist hier die mehrfach angewandte Montagetechnik, in der ein Schuss, sei es imaginär oder real in die neue Szene einführt und den Zuschauer durch die direkte Visierung mitnimmt. Zu Recht wurden Mathieu Kassovitz und Scott Stevenson dafür mit einem César für den besten Schnitt preisgekrönt.

Besonders vielschichtig ist die Rolle des Hubert angelegt, der im Film später als die beiden anderen Hauptprotagonisten eingeführt wird. Er scheint etwas älter als die beiden anderen und distanzierter gegenüber der Waffeneuphorie zu sein. Geraten die Freunde wieder in eine polizeiliche Auseinandersetzung, ist er es, der noch am ehesten vernunftsorientiert handelt und die Konflikte schlichtet. Als einziger hat er sich mit seiner Boxhalle bereits eine Existenz aufgebaut, die allerdings durch die Unruhen zerstört wurde und mit ihr seine Zukunft. Anstatt sich der Gewalttätigkeit hinzugeben, strebt er ein neues Leben an, in der man sich nicht durch Waffen Respekt verschafft.

Die regelmäßig eingeblendete Zeit verleiht dem Film eine 24h Struktur, die als exemplarisch für die Trostlosigkeit des Alltags, dennoch nicht als verallgemeinert zu sehen ist. Zwar wurde die Konfliktsituation zwischen Vorortsbewohnern und Polizei durch die Unruhen 2005 erneut seit der Veröffentlichung des Films verschärft, dennoch hat sich die soziale Situation seit 12 Jahren innerhalb der Pariser Vororten verbessert. So gab beispielsweise der Bürgermeister des Vorortes Clichy-sous-Bois Olivier Klein an, dass es seither urbane Umbaumaßnahmen in Millionenhöhe gab, um sowohl die Wohnlage (ein Rückgang der Sozialwohnungen von 20%), als auch die Arbeitsperspektive (ca. 15-20% der Arbeitsstellen werden an Bewohner vergeben) zu verbessern.

Natürlich kann dies keine kulturellen Konflikte verhindern, die bei einer multikulturellen Bevölkerung entstehen können, aber es bietet einen Ansatzpunkt, an dem gearbeitet werden kann, um auch gegen Diskriminierung und Rassismus anzukämpfen.

Der auch in der Kategorie bester Film mit einem César prämierte Film sensibilisiert gekonnt und anschaulich gesellschaftliche Missstände in Großstädten und deren potentiellen Auswirkungen auf das Verhalten in Vorstädten groß gewordener Jugendlicher.

verfasst im Wintersemester 2017/2018

 

 

Quellen:

http://www.leparisien.fr/chanteloup-les-vignes-78570/en-vingt-ans-la-cite-de-la-haine-s-est-metamorphosee-31-05-2015-4819499.php 

http://koeln-nachrichten.de/kultur/kinofilm/hass-von-mathieu-kassovitz-nochmal-gesehen-nach-15-jahren/

http://www.film-kultur.de/filme/filmhefte/hass.pdf

Hass…: eine Kritik von Niklas Tröschel

„Wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung“ – eine Filmkritik über den Spielfilm „Hass“ (1995)

Am 6. April 1993 wird der 17-jährige Makomé M’Bowole in Paris festgenommen. Er soll mit zwei Freunden Zigaretten in einem Tabakladen geklaut haben. Da er noch minderjährig ist und seine Eltern nicht zu erreichen sind, veranlasst die Staatsanwaltschaft seine Freilassung. Der Kriminalbeamte Pascal Compain ignoriert jedoch diese Anweisung und führt das Verhör fort. Kurz darauf stirbt Makomé M’Bowole, erschossen mit einer einzigen Kugel aus nächster Nähe. Während des Prozesses teilt Compain in einer Stellungnahme mit, er wollte den Jugendlichen mit seiner Waffe „einschüchtern“.

Kurz darauf revoltiert die Jugend in der Pariser Brennpunkten. Der Film „Hass“ (franz. Originaltitel: „La haine“) steigt mit Originalszenen der Krawalle in den sogenannten „Banlieues“ ein. Dort ist es allerdings „Abdel“, der durch einen Polizisten lebensgefährlich verletzt wurde und im Koma liegt. Regisseur Mathieu Kassovitz erzählt die Geschichte der darauf folgenden 24 Stunden im Leben von Vince, Saïd und Hubert, drei Jungendlichen aus der Pariser Vorstadt. Zu dritt streifen sie durch ihr von den Randalen in Mitleidenschaft gezogenes Viertel. Vince war selbst Teil der Auseinandersetzungen und ist getrieben vom Hass gegen die Polizei und Bessergestellte. Saïd flüchtet sich aus Angst vor der eigenen Zukunft in Humor, während Hubert nach dem Verlust seines Boxstudios nur noch einen Wunsch hat: Raus aus dieser Gegend.

Auf den Straßen ist die Stimmung gereizt. Die Bewohner sind wütend auf die Randalierer, bei der Jugend staut sich die Aggression über die miserablen Zustände und die Polizei wird angesichts des drohenden Kontrollverlustes immer nervöser. Dann kursiert das Gerücht, dass ein Beamter bei den Auseinandersetzungen seine Dienstwaffe verloren hat. Für die einen die Möglichkeit, sich für den in Lebensgefahr schwebenden Abdel zu rächen, für die anderen ein Risiko, dass noch mehr Hass und Gewalt ihr Leben in die Zange nimmt.

In schwarz-weiß Bildern fängt Regisseur Kassovitz den grauen Alltag im Vorstadt-Leben aus der Sicht von Betroffenen ein. Dabei prangert er soziale Missstände an, ohne die Welt in gut und böse aufzuteilen. Vom verständnisvollen Viertel-Kenner bis zum rassistischen Sadisten ist die Pariser Polizei vielschichtig dargestellt. Genauso wie die Jugend, zerrissen zwischen der Wut über die eigene Perspektivlosigkeit und dem Wunsch, ein normales Leben führen zu können. Der Film lässt sich seine Zeit für Einstellungen und verzichtet auf große Effekte und Ästhetik. Sekundenlange Szenen ohne Schnitt, Schwenk oder Zoom lassen den Zuschauer zum Beobachter werden. Der muss die graue Alltags-Tristesse mit den Protagonisten ertragen, bei langatmigen Erzählungen über Fernsehsendungen und dem Nichtstun an der Nilpferd-rutsche vom Kinderspielplatz. Wenig später erträgt er aber genauso tatenlos die immer weiter eskalierende Gewalt.

Nur in wenigen Momenten rutscht der Film inhaltlich aus der Ego-Perspektive. Zu grob eingedroschen sollen die „Banlieues“ auch kulturell dem Publikum näher gebracht werden. Vom Breakdancer bis zum DJ aus dem Hochhauszimmer – ist das zu stark gewollte Werbung für die Subkultur der 1990er Jahre.

„Hass“ ist über zwanzig Jahre alt und zeigt Probleme, mit denen westliche Gesellschaften bis heute zu kämpfen haben. Weiterhin stecken Menschen in sozialen Brennpunkten fest, ohne Aussicht auf eine bessere Zukunft. So werden sie leichte Opfer für extremistische Menschenfänger und treiben sie zu Terror und Gewalt. Der Film verdeutlicht heutzutage umso mehr, welche immense Bedeutung das soziale Klima für unser Zusammenleben hat und wohin immer stärker werdender Hass und Perspektivlosigkeit führt.

Quellen:
Amnesty International News, Mai 1996

Hüter einer gnadenlosen Gesellschaft“, Zeit, 16. April 1993

OFDb.de – Die Online-Filmdatenbank